Unter Off-Label Use wird verstanden eine die Zulassung überschreitende Anwendung von zugelassenen Fertigarzneimitteln bei Patientengruppen oder Anwendungsgebieten (Indikationen), für die sie von der nationalen oder europäischen Zulassungsbehörde nicht zugelassen sind. Ärztinnen und Ärzten ist es grundsätzlich erlaubt, nach sorgfältiger Aufklärung der Patienten Arzneimittel außerhalb der jeweiligen Zulassung zu verordnen. Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten sind dabei immer wieder die sich daraus ergebenden arzneimittelrechtlichen, haftungsrechtlichen und sozialrechtlichen Probleme.
Im Mittelpunkt steht dabei die Erstattungsfähigkeit der Kosten. Die Regelungsmaterie ist dabei durchaus komplex. Neben grundlegenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundessozialgerichts sind inzwischen auch im SGB V entsprechende Bestimmungen enthalten. Zu nennen ist hier vor allem § 2 Abs. 1a SGB V, der regelt „Versicherte mit einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder mit einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, können auch eine von Absatz 1 Satz 3 abweichende Leistung beanspruchen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht.
BSG entscheidet über weitere Grundsatzfragen
Jetzt hatte das Bundessozialgericht u.a. darüber zu entscheiden, ob Versicherte mit einer regelmäßig tödlichen Erkrankung auch dann einen Anspruch auf ein Arzneimittel im Off-Label Use haben, wenn die fehlende Zulassung für die betreffende Indikation auf einer negativen Bewertung durch die für Arzneimittelsicherheit zuständige Behörde beruht. Das Bundessozialgericht selbst kündigte diese Entscheidung mit Pressemitteilung vom 23.06.2023 als eine solche über Grundsatzfragen zum Off-Label Use an und veröffentlichte im Anschluss an die Entscheidung vom 29.06.2023 (Az. B 1 KR 35/21 R) den entsprechenden Terminbericht. Mit der Veröffentlichung der Entscheidungsgründe ist in den nächsten Wochen zu rechnen.
Der Fall
Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger leidet an einer Duchenne-Muskeldystrophie infolge Nonsense-Mutation des Dystrophin-Gens. Hierbei handelt es sich um eine genetisch bedingte, fortschreitende und typischerweise im frühen Erwachsenenalter tödliche Erkrankung. Zum Zeitpunkt des Antrags auf Kostenübernahme für das Arzneimittel Translarna im Jahr 2019 war der Kläger bereits seit 4 Jahren nicht mehr gehfähig. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) hatte sowohl kurz vor der Antragstellung durch den Kläger als auch später im Oktober 2019 einen Antrag des Herstellers auf Erweiterung der Indikation auf nicht mehr gehfähige Patienten abgelehnt. Da die Krankenkasse des Klägers die Kostenübernahme ablehnte, klagte er vor dem Sozialgericht Mainz, das die Klage abwies. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz hingegen verurteilte die Krankenkasse, den Kläger mit Translarna zu versorgen. Zur Begründung führte es aus, dass die Versorgung des nicht mehr gehfähige Klägers mit dem Arzneimittel eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Verlauf der Erkrankung verspreche. Die Erweiterung der Indikation durch die EMA sei aufgrund einer nicht aussagekräftigen Datenlage abgelehnt worden, nicht wegen eines negativen Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Die weitere wissenschaftliche Erforschung der Wirksamkeit von Translarna habe seither neue Hinweise auf eine positive Wirkung erbracht. Die Ablehnung der Indikationserweiterung entfalte daher keine Sperrwirkung. Die seitens der Krankenkasse gegen das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz eingelegte Revision hatte Erfolg.
Die Entscheidung
Der 1. Senat des BSG lehnte den Anspruch des Klägers auf eine Versorgung mit dem Arzneimittel Translarna ab. Zwar leide der Kläger an einer regelmäßig tödlichen Erkrankung. Es fehle jedoch an der hinreichenden Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf. An dieser Voraussetzung fehle es, wenn das Arzneimittel für die betreffende Indikation nicht zugelassen sei und Anträge des Herstellers auf Erweiterung der Zulassung auf diese Indikation aufgrund inhaltlicher Bewertung durch die zuständige Arzneimittelbehörde keinen Erfolg hatten. So liege der Fall hier. Translarna habe auf Grundlage der negativen Bewertung des Nutzens des Arzneimittels durch den Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA für nicht mehr gehfähige Patienten keine Zulassung erhalten. Der Senat halte an seiner Rechtsprechung fest, nach der eine solche negative Bewertung des Arzneimittels im Zulassungsverfahren eine Sperrwirkung für Ansprüche nach § 2 Absatz 1a SGB V entfalte. Dabei werde nicht verkannt, dass die Prüfmaßstäbe für einen Kostenübernahmeanspruch nach § 2 Absatz 1a SGB V und im Arzneimittelzulassungsverfahren nicht vollständig deckungsgleich seien. Allerdings gebe es gewichtige Gründe, an der Sperrwirkung festzuhalten. So sollten nach der Gesetzesbegründung zu § 2 Absatz 1a SGB V ausdrücklich keine über die vom BSG entwickelten Grundsätze hinausgehenden Leistungen eingeführt werden („Tomudex-Entscheidung“, Urteil vom 4.4.2006, Az. B 1 KR 7/05 R). Und zu diesen Grundsätzen gehöre die Sperrwirkung ablehnender arzneimittelrechtlicher Entscheidungen.
Das Arzneimittelrecht trage dem sich aus dem Grundgesetz (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) ergebenden staatlichen Schutzauftrag Rechnung, indem es Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Arzneimittel gewährleiste. Das dauerhafte Unterlaufen der arzneimittelrechtlichen Vorschriften könne daher – gerade auch bei schwerwiegenden Erkrankungen – zu Gefahren für Leben und körperliche Unversehrtheit führen. Die Institutionalisierung des Zulassungsverfahrens und die hohe fachliche Expertise der Arzneimittelbehörden böten eine besonders hohe Gewähr für Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit der Prüfung.
Ebenso wie die GKV bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sehe auch das Arzneimittelrecht ein eigenes strukturiertes Qualitätssicherungssystem vor, zudem erlaube es erleichterte Zulassungen und in Härtefällen auch Ausnahmeentscheidungen. Die Sperrwirkung könne überwunden werden, wenn im Nachgang zu der negativen arzneimittelrechtlichen Bewertung neue wissenschaftliche Erkenntnisse gewonnen würden, die zumindest die Voraussetzungen einer vereinfachten, gegebenenfalls bedingten Zulassung erfüllten.
Fazit
Das Urteil ist für Patienten bitter, steht doch hinter jedem Antrag auf Kostenübernahme im Off Label Use ein schweres Schicksal. Gleichzeitig schafft die Entscheidung Klarheit und Rechtssicherheit, der es für die ohnehin komplexen, medizinisch nicht immer leicht zu beantwortenden Fragestellungen im Zusammenhang mit der Anwendung von Arzneimitteln im Off Label Use bedarf.