Neues BGH-Urteil zu den Nachsorgepflichten von Krankenhäusern nach stationärer Behandlung
Neues BGH-Urteil zu den Nachsorgepflichten von Krankenhäusern nach stationärer Behandlung
Bereits 1987 entschied der BGH, dass sowohl der Krankenhausträger als auch die im Krankenhaus behandelnden Ärztinnen und Ärzte verpflichtet sein können, dafür zu sorgen, dass die erforderliche Nachbehandlung der Patientin bzw. des Patienten sachgerecht erfolgt (BGH, Urteil vom 07.07.1987, Az. VI ZR 146/86). Dies ergibt sich aus dem vom BGH mehrfach herausgestellten Grundsatz, dass das Wohl der Patientin bzw. des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur jeden ärztlichen Handelns ist. So müsse die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt auf eine rasche diagnostische Abklärung und gegebenenfalls Therapie hinwirken, um vermeidbare Schädigungen der Patientin bzw. des Patienten auszuschließen (BGH, Urteil vom 14.07.1992, Az. VI ZR 214/91). Dabei wird zwischen sogenannten Befunderhebungsfehlern und Fehlern der therapeutischen Information differenziert. Zwar handelt es sich in beiden Fällen um Behandlungsfehler. Die Unterscheidung ist dennoch von erheblicher Bedeutung, weil die juristischen Folgen unterschiedlich sind. Denn nur bei einem Befunderhebungsfehler kommt es zu einer Beweislastumkehr zugunsten der bzw. des Geschädigten – ein Umstand, der für den Verlauf eines Haftungsprozesses von erheblicher Bedeutung ist. Vor einigen Monaten äußerte sich nun der BGH zu den Kriterien der Abgrenzung und bejahte das Vorliegen eines Befunderhebungsfehlers auf Seiten der Krankenhausträgerin (Urteil vom 04.06.2024, Az. VI ZR 108/23).
Der Fall
Der Kläger war als Frühgeborenes im Krankenhaus der Beklagten zur Welt gekommen und in der dortigen Klinik für Kinder- und Jugendmedizin versorgt worden. Da bei Frühgeborenen ein besonderes Risiko für eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Netzhaut (Frühgeborenen-Retinopathie) und eine sich daraus entwickelnde Netzhautablösung besteht, wurden beim Kläger regelmäßige augenärztliche Untersuchungen vorgenommen. Hinweise auf eine Frühgeborenen-Retinopathie ergaben sich dabei nicht. Später wurde der Kläger aus der stationären Behandlung nach Hause entlassen. Laut vorläufigem Entlassungsbrief empfahl die Beklagte eine augenärztliche Kontrolle in 3 Monaten. Keine 4 Wochen nach der Entlassung wurde bei dem Kläger eine Frühgeborenen-Retinopathie diagnostiziert. Auf dem rechten Auge ist er vollständig erblindet. Auf dem linken Auge besteht eine hochgradige Sehbehinderung.
Der Kläger nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung auf Ersatz materiellen Schadens sowie Schmerzensgeld in Anspruch. Er wirft der Beklagten vor, eine augenärztliche Kontrolle erst nach 3 Monaten empfohlen zu haben. Seines Erachtens hätte die Abschlussuntersuchung zwingend zum errechneten Geburtstermin des Klägers (dieser lag 10 Tage nach der Entlassung) erfolgen müssen. Bei der früheren Kontrolle wäre die Retinopathie rechtzeitig erkannt, behandelt und die Erblindung verhindert worden.
Die Entscheidung
Der BGH bejahte das Vorliegen eines Befunderhebungsfehlers, da die Beklagte verpflichtet gewesen sei, eine weitere Kontrolluntersuchung der Augen des Klägers zu veranlassen. Es sei medizinisch geboten gewesen, die Augen des Klägers 3 Wochen nach der letzten Untersuchung oder jedenfalls zum errechneten Geburtstermin erneut auf Anzeichen einer Netzhautveränderung zu kontrollieren. Wäre der Kläger bis zum errechneten Geburtstermin in stationärer Behandlung verblieben, bestünde kein Zweifel daran, dass die Beklagte die für die Erhaltung der Sehkraft elementare Abschlussuntersuchung hätte veranlassen müssen. An dieser Verpflichtung ändere sich im vorliegenden Fall nichts dadurch, dass die Beklagte den Kläger 10 Kalendertage vor der Fälligkeit der Abschlussuntersuchung entlassen habe. Ein Krankenhausträger sei unter den Voraussetzungen des § 115a SGB V berechtigt, gesetzlich Versicherte im Anschluss an die stationäre Krankenhausbehandlung ohne Unterkunft und Verpflegung weiter zu behandeln und gemäß § 39 Absatz 1a SGB V verpflichtet, im Rahmen der bestehenden Versorgungsstruktur für eine sachgerechte Anschlussversorgung nach der Krankenhausbehandlung zu sorgen. In einem Entlassplan seien die medizinisch unmittelbar erforderlichen Anschlussleistungen festzulegen und in Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärztinnen bzw. Ärzten und dem Pflegepersonal die gebotene Anschlussversorgung fachlich zu strukturieren und zu konkretisieren sowie die vorgesehenen konkreten Abläufe mit den daran Beteiligten zu koordinieren. Vor diesem Hintergrund sei die Beklagte verpflichtet gewesen, die für die Erhaltung der Sehkraft des Klägers elementare Abschlussuntersuchung zu veranlassen. Die Beklagte hätte daher – wenn sie eine nachstationäre Behandlung des Klägers nicht für erforderlich hielt – zumindest in Absprache mit den Eltern frühzeitig Kontakt mit einer weiterbehandelnden Augenärztin bzw. einem weiterbehandelnden Augenarzt aufnehmen und für einen rechtzeitigen Termin für die Untersuchung des Klägers, zum Beispiel durch Vereinbarung eines Untersuchungstermins, sorgen müssen.
Fazit
In der Entscheidung nimmt der BGH die für Haftungsprozesse bedeutsame Abgrenzung von Befunderhebungsfehlern und Fehlern der therapeutischen Information vor. Hierfür ist darauf abzustellen, wo der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit ärztlichen Fehlverhaltens zu finden ist. Anders als ein „bloßer“ Fehler der therapeutischen Information führt das Vorliegen eines Befunderhebungsfehlers über § 630h Abs. 5 Satz 2 BGB zu einer Beweislastumkehr zugunsten des Geschädigten. Das heißt, es wird, – sofern alle weiteren Voraussetzungen gegeben sind, - vermutet, dass der Behandlungsfehler für die Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit ursächlich war. Die Behandlerseite hat zwar die Möglichkeit, diese Vermutung durch Gegenbeweis zu widerlegen. Gleichwohl liegt auf der Hand, dass eine solche Beweislastumkehr für die Erfolgsaussichten eines Haftungsprozesses nicht ohne Folgen bleibt.