Digitalisierung unserer Justiz und der öffentlichen Verwaltung

In den Medien wird immer wieder über den Fachkräftemangel in der öffentlichen Verwaltung berichtet. Das Problem: Der Mangel an Fachkräften wird von Jahr zu Jahr weiter zunehmen, so dass die durchaus berechtigte Befürchtung besteht, dass der Staat seine Kernaufgaben in den Bereichen des Gemeinwohls und der Daseinsvorsorge nicht mehr in der gebotenen Qualität wird erfüllen können. Gleiches gilt für unser Justizsystem, das spätestens seit den „Dieselskandalen“ in der Automobilindustrie öffentlichkeitswirksam eine massive Überlastung verzeichnet. Wo liegen hier liegen die Ursachen? Welche Problemstellungen treffen unsere Justiz und die öffentliche Verwaltung gleichermaßen? Und die wohl wichtigste Frage: Welche Lösungsansätze gibt es und wie setzen wir sie schnellstmöglich um?   

An dieser Stelle schon einmal vorab: Die Zeit ist jetzt gekommen, in der es mutige Visionäre braucht, um in einigen Jahren auf einen erfolgreichen Umbruch und nicht auf einen Zusammenbruch zurückzublicken. Zudem brauchen wir Menschen, die anpacken und das erdachte Gedankengut in geordnete Prozesse umsetzen.

Digitalisierung ist ein Prozess – kein Zustand! 

Doch werfen wir zunächst einen Blick darauf, was mich dazu veranlasst hat, diesen Beitrag zu schreiben. Wir befinden uns derzeit an einem Punkt, an dem die Digitalisierung in horizontaler Richtung kaum noch voranschreiten kann. Das heißt, nahezu jeder Lebensbereich ist bereits in irgendeiner Form digitalisiert. Mein im Sommer neu gekaufter Kühlschrank kann inzwischen mit dem Supermarkt um die Ecke kommunizieren und diesem mitteilen, welche Lebensmittel aufgebraucht sind. Damit ist der Prozess der Digitalisierung aber noch lange nicht abgeschlossen. Denn es handelt sich nicht um einen binären Prozess, bei dem man mit einer Null oder einer Eins angeben kann, ob ein bestimmter Bereich „digitalisiert“ oder „nicht digitalisiert“ ist. Digitalisierung ist ein Begriff, der eher einen Prozess als einen Zustand beschreibt. So hat sich die Digitalisierung in den letzten Jahren immer mehr zu einem vertikalen Prozess entwickelt. Es geht also darum, dass Bereiche, die bei oberflächlicher Betrachtung als digitalisiert gelten, immer weiter durchdrungen werden und die Tiefe dieses Prozesses weiter vorangetrieben wird. 

Dies gilt auch für die Bereiche der Justiz und der öffentlichen Verwaltung. Bei oberflächlicher Betrachtung kann man hier durchaus von einer gewissen Digitalisierung sprechen. Ein den Bürgerinnen und Bürgern zur Verfügung gestelltes Online-Portal, mit dem Anträge gestellt, Termine vereinbart oder Mahnverfahren angestoßen werden können, kann in der heutigen Zeit bei ernsthafter Betrachtung aber nicht mehr als „Wir sind digitalisiert“ gelten. Dies vor allem dann nicht, wenn in Zeiten von künstlicher Intelligenz die hausinternen Systeme in der Verwaltung die online eingegebenen Daten nicht weiterverarbeiten können und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die erhaltenen Daten notgedrungen ausdrucken und abheften müssen.
   

Die öffentliche Verwaltung und die freie Wirtschaft – eine Entwicklung in zwei Geschwindigkeiten    

Die Betrachtung der Digitalisierung im nun als Legal Tech bezeichneten Umfeld sieht häufig nur die allgemeinen Entwicklungen und die damit einhergehenden Verbesserungen. Oft wird übersehen, dass diese Entwicklungen nicht in allen Bereichen gleich schnell voranschreiten. Denn die Geschwindigkeit, in der sich die freie Wirtschaft und die deutsche Justiz oder die öffentliche Verwaltung entwickeln, unterscheiden sich grundlegend. Womit wir bei der Krux des Ganzen wären. Während sich die freie Wirtschaft nicht nur völlig frei und unbeeinflusst von äußeren Einflüssen (rechtliche Aspekte an dieser Stelle einmal außer Acht gelassen) entwickeln kann und darüber hinaus in der Regel auch noch über frei einsetzbare finanzielle Mittel verfügt, sind die deutsche Justiz und die öffentliche Verwaltung an ganz andere Rahmenbedingungen und auch finanzielle Mittel gebunden.   

Nun könnte man diese Tatsache lapidar damit abtun, dass die Mühlen der Justiz eben langsam mahlen. Dies wird aber zum einen dem Ausmaß der Problematik nicht gerecht und birgt zum anderen enorme Gefahren für unser Rechtssystem. Denn der technologische Vorsprung der freien Wirtschaft beträgt bereits mehrere Jahre – mit deutlich steigender Tendenz.  
 

Das ungleiche Spielfeld der Massenverfahren – und die Auswirkung auf die Rechtsstaatlichkeit 

Ein prägnantes Beispiel, welches diesen technologischen Vorsprung und die damit verbundene Problematik besonders deutlich macht, sind die Klagen rund um die „Dieselskandale“ in der Automobilindustrie. Dabei handelt es sich um eine Verfahrensart, die allgemein als Massenverfahren bezeichnet wird. Darunter versteht man Rechtsstreitigkeiten, die eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle betreffen, also eine Vielzahl von Fällen mit im Wesentlichen gleichem Sachverhalt und gleichen Rechtsfragen. Im Zusammenhang mit solchen Verfahren wird das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Justiz und den Verfahrensbeteiligten besonders deutlich.  

Im Dieselskandal stehen sich deutsche Automobilkonzerne mit ihren beauftragten Anwaltskanzleien, die geschädigten Verbraucherinnen und Verbraucher (weit über 300.000) mit ihren von Rechtsschutzversicherern finanzierten Anwaltskanzleien und die deutsche Justiz gegenüber. In diesem Dreieck treffen nicht nur eine enorme Finanzkraft und eine massive Manpower auf Kläger- und Beklagtenseite auf eine personell begrenzte Ressource der Justiz, sondern es ergeben sich auch deutliche Unterschiede auf der technologischen Ebene, die in diesem Fall wohl noch gravierender sind als die zuvor genannten.

Sowohl die Kläger- als auch die Beklagtenseite setzten im Verfahren auf softwaregestützte Lösungen, um die Verwaltung und die Erstellung der Schriftsätze so effizient wie möglich zu gestalten. Damit nahmen die Klageschriften und die Klageerwiderungen nur wenige Minuten pro Fall in Anspruch. Diese Power traf auf ein Justizsystem, welches aufgrund einer mangelnden Digitalisierung nicht für Massenverfahren ausgelegt war. Es folgten nicht nur eine massive Überlastung der Gerichte und lange Wartezeiten auf ein Urteil, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf die Effizienz des Justizsystems insgesamt.   

Dabei ist ein effizientes Rechtssystem von fundamentaler Bedeutung für einen intakten Rechtsstaat. Denn lange Bearbeitungszeiten auf Seiten der Justiz ziehen eine Vielzahl von Faktoren nach sich, die sich zusätzlich negativ auf die positive Wahrnehmung des Rechtsstaates auswirken. So führt eine lange Verfahrensdauer in der Regel auch zu einer gewissen Rechtsunsicherheit, da die Betroffenen lange Zeit in Ungewissheit über den Ausgang ihres Verfahrens leben müssen. Mit der längeren Verfahrensdauer gehen häufig auch höhere Kosten für die Betroffenen einher. Lange Wartezeiten, die damit verbundene Rechtsunsicherheit und nicht kalkulierbare Kosten können somit den Vertrauensverlust in das Rechtssystem fördern. Das muss zwingend und unter allen Umständen vermieden werden.  
 

Manuelle Prozesse zwingen die öffentliche Verwaltung in die Knie 

Analog zu den Massenverfahren in der Justiz gibt es auch in der öffentlichen Verwaltung Ereignisse, die zu einer massenhaften Bearbeitung von Anträgen und den damit verbundenen Bearbeitungszyklen einhergehen. Besonders deutlich wurde dies mit der Einführung des Wohngeld-Plus-Gesetzes.

Im Zuge der Einführung der neuen Regelung hat sich der Kreis der berechtigten Wohngeldempfängerinnen und -empfänger zu Beginn des Jahres von 600.000 auf rund zwei Millionen Haushalte mehr als verdreifacht. Eine enorme Herausforderung für Städte und Gemeinden, dieses Antragsvolumen zu bewältigen. Wie viele weitere administrative Prozesse, besteht auch der Ablauf zur Beantragung von Wohngeld aus einer Reihe sich bedingender Prozessschritte, die vor der Genehmigung oder der Ablehnung des Wohngeldbezugs zu durchlaufen sind. Dies schließt neben der Prüfung der Vollständigkeit von eingereichten Unterlagen und der entsprechenden Kommunikation mit den Antragstellenden noch weitere Prozesse wie beispielsweise die Berechnung der Wohngeldhöhe oder auch die Erstellung von Bescheidvorlagen mit ein. Ein Prozess, der ohne digitale Unterstützung nicht nur sehr zeitaufwändig, sondern auch extrem kostenintensiv ist.  

Einfache Lösungen, wie individuell konfigurierbare und benutzerfreundliche Online-Plattformen, wie wir sie bei BDO entwickeln und einsetzen, ermöglichen es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Wohngeldstellen, digital (aber auch in Papierform) eingereichte Wohngeldanträge digital weiterzubearbeiten. Die Anträge können automatisch in das bestehende System zur weiteren Bearbeitung übernommen und einem ersten Vollständigkeits- und Plausibilitätscheck unterzogen werden. Dies vereinfacht den Prozess sowohl für die Antragstellerinnen und Antragsteller als auch für die Wohngeldstellen und reduziert zudem den Papieraufwand.

Föderalismus – ein besonderes Problem bei der Digitalisierung  

Datenschutz, finanzielle Belastungen oder die Gewährleistung des Zugangs für Bürgerinnen und Bürger – die Probleme bei der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung sind vielfältig. In Deutschland stellt hier der Föderalismus eine besondere Herausforderung dar. Das deutsche föderale System teilt die Zuständigkeiten und Befugnisse zwischen dem Bund und den 16 Bundesländern auf. Dies kann im Zuge der Digitalisierung der öffentlichen Veraltung zu einer Reihe von Problemen führen. So hat jedes Bundesland grundsätzlich die Autonomie, seine eigenen Ansätze zur Digitalisierung und zum Einsatz von technologischen Lösungen zu verfolgen. In der Folge kann dies zu einer Fragmentierung von digitalen Dienstleistungen und Verwaltungsprozessen führen, was letzten Endes die Interoperabilität erschwert und Ineffizienzen fördert.

Auch die Koordinierung zwischen den Ländern und dem Bund ist im Hinblick auf die Umsetzung gemeinsamer digitaler Projekte oder die Festlegung einheitlicher Standards schwierig. Darüber hinaus dürfte die Notwendigkeit, unterschiedliche Interessen und Prioritäten miteinander in Einklang zu bringen, zu weiteren Verzögerungen und Ineffizienzen bei der Umsetzung führen. Zudem wird die Verteilung der finanziellen Ressourcen in den einzelnen Bundesländern eine weitere Herausforderung darstellen. Für die Bürgerinnen und Bürger kann Föderalismus bedeuten, dass sie je nach Digitalisierungsstrategie des jeweiligen Bundeslandes unterschiedliche digitale Zugänge und Servicequalitäten erleben.  

Trotz dieser Herausforderungen kann der Föderalismus in Deutschland aber auch Vorteile bieten, da er den Ländern eine gewisse Flexibilität bietet, um ihre eigenen digitalen Initiativen und Strategien an ihre spezifischen Bedürfnisse und Gegebenheiten anzupassen. Die Koordinierung zwischen den Bundesländern und dem Staat ist jedoch entscheidend, um die Digitalisierung effektiv voranzutreiben und sicherzustellen, dass die Bürgerinnen und Bürger in allen Regionen gleichermaßen von den Vorteilen profitieren können. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit und den Austausch bewährter Verfahren. 

Gestaltungswille als Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Transformation  

Angesichts des geschilderten Status quo und der dahinterstehenden Problemfelder darf jedoch eines nicht übersehen werden: Trotz der großen Herausforderungen liegt darin auch eine enorme Chance, nicht nur die Effizienz und Leistungserbringung zu verbessern, sondern damit auch einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung und Festigung unseres Rechtsstaates zu leisten.   

Was aber braucht es, um die bestehenden Prozesse in einen erfolgreichen Transformationsprozess zu überführen? Aus meiner Sicht vor allem eines: einen unbedingten Gestaltungswillen. Ohne Visionäre, die eine klare Zielvorstellung definieren und diese verständlich vermitteln können, und ohne Pioniere, die mutig vorangehen und in ihrem Gestaltungswillen auch bereit sind, die eine oder andere Mauer einzureißen und Rückschläge hinzunehmen, wird uns diese große Aufgabe nicht gelingen. Dabei müssen sich alle an diesem Prozess Beteiligten über eines im Klaren sein: Sie müssen nicht bei Null anfangen. Das Feld der (Legal) Tech Anbieter hat sich in den letzten Jahren rasant entwickelt. Für nahezu jedes aktuelle Digitalisierungsproblem gibt es in der freien Wirtschaft bereits eine Lösung, von der man lernen oder an die man andocken kann.   

Der angesprochene Gestaltungswille gilt aber nicht nur auf der Umsetzungsebene. Denn für eine erfolgreiche Zukunftsvision einer digitalisierten Justiz und Verwaltung, die sich nahtlos an das technologische Niveau der freien Wirtschaft anpasst, ist auch eine entsprechende Ausstattung mit finanziellen Mitteln die absolute Grundvoraussetzung. Klar ist: Die freie Wirtschaft ist technologisch weit voraus. Um aufzuholen, reicht es nicht aus, die gleiche Entwicklungsgeschwindigkeit zu erreichen. Um aufzuholen, muss der öffentliche Sektor zum digitalen Vorreiter werden. Nur so können Justiz und Verwaltung ihre Kernaufgaben erfüllen und zu einer tragenden Säule unseres Rechtsstaates werden.

Legal Technology 

Legal Tech (kurz für „Legal Technology“) bezieht sich auf den Einsatz von Softwarelösungen, um die Bereitstellung von Rechtsdienstleistungen zu verbessern, juristische Prozesse effizienter zu gestalten und den Zugang zum Recht zu erleichtern. Diese Technologien können verschiedene Aspekte der Rechtsbranche abdecken, einschließlich der Automatisierung von einzelnen Arbeitsschritten oder gesamten -prozessen, der Analyse und Aufbereitung von Rechtsdokumenten, der Verwaltung von juristischen Informationen und der Bereitstellung von Online-Beratung.