Rechtsprechungsänderung des BAG? - Wirk­same Kün­di­gung auch bei fehlerhafter Mas­se­n­ent­las­sungsanzeige?

Ist arbeitgeberseits beabsichtigt, in einem Betrieb innerhalb von 30 Kalendertagen eine die Schwellenwerte des § 17 Abs. 1 KSchG erreichende Anzahl von Arbeitnehmern zu entlassen (sog. Massenentlassung), bestehen zusätzliche Arbeitgeberpflichten. Der Arbeitgeber muss in diesen Fällen insbesondere einen gebildeten Betriebsrat vorab beteiligen (sog. Konsultationsverfahren) und gegenüber der Bundesagentur für Arbeit vorab eine Anzeige über die beabsichtigten Entlassungen erstatten (sog. Massenentlassungsanzeige). Beides ist für Arbeitgeber in der Praxis mit erheblichen Risiken verbunden, da sowohl Fehler im Rahmen des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat als auch eine unterbliebene oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige zur Unwirksamkeit der in der Folge ausgesprochenen Kündigungen führt.

Ein Beschluss des BAG vom 14.12.2023 (Az.: 6 AZR 157/22 (B)) gibt Anlass für Arbeitgeber, auf ein wenig Entspannung zu hoffen, wenn es um die Folgen einer unterlassenen oder fehlerhaften Massenentlassungsanzeige geht. Denn anders als bisher könnten Verstöße zukünftig nicht mehr zur Unwirksamkeit einer Kündigung führen. Käme es zu einer solchen Rechtsprechungsänderung, wäre dies für die arbeitsrechtliche Praxis eine signifikante Erleichterung bei betrieblichen Umstrukturierungen, die mit einem größeren Personalabbau einhergehen.

Bislang: Fehlende oder fehlerhafte Massenentlassungsanzeige führt zu Unwirksamkeit der Kündigung

Bislang nimmt das BAG in ständiger Rechtsprechung an, dass Verstöße gegen die Anzeigepflicht gegenüber der Bundesagentur für Arbeit nahezu ausnahmslos und ohne Möglichkeit der Heilung die Nichtigkeit der beabsichtigten Kündigung zur Folge haben. Dieses strenge Sanktionsregime stand nunmehr in mehreren, beim Sechsten Senat des BAG anhängigen Revisionsverfahren erneut auf dem Prüfstand. Denn angesichts der Schlussanträge des Generalanwalts in einem anderen Vorabentscheidungsersuchen des BAG bei dem EuGH hinterfragte der Sechste Senat, ob die bisherige Sanktion - d.h. die Unwirksamkeit der Kündigung - verhältnismäßig ist und im Einklang mit der europäischen Massenentlassungs-Richtlinie (MERL) steht.  

Beabsichtigte Rechtsprechungsänderung des Sechsten Senats des BAG

Ausweislich einer Pressemitteilung des BAG vom 14.12.2023 beabsichtigt der Sechste Senat des BAG, seine Rechtsprechung, dass eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB unwirksam ist, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt, aufzugeben.  

Ausblick: Massenentlassung mit weniger Pflichten?

Trotz der seitens des Sechsten Senats des BAG beabsichtigten Änderung der Rechtsprechung zu den Sanktionen bei Fehlern im Rahmen des Anzeigeverfahrens bei Massenentlassungen ist Arbeitgebern derzeit nach wie vor zu empfehlen, äußerste Sorgfalt auf die Einhaltung sämtlicher rechtlicher Vorgaben in Bezug auf eine Massenentlassungsanzeige zu legen.

Denn aktuell hat „nur“ der Sechste Senat des BAG angekündigt, eine Rechtsprechungsänderung in die Wege leiten zu wollen. Der allgemein für Kündigungen zuständige Zweite Senat des BAG vertritt hingegen bisher die Auffassung, dass eine Kündigung unwirksam ist, wenn bei ihrer Erklärung keine wirksame Massenentlassungsanzeige vorliegt. Der Sechste Senat hat daher angefragt, ob der Zweite Senat an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhält.

Sofern sich der Zweite Senat der Auffassung des Sechsten Senats anschließt und es insoweit zu einem Kurswechsel des BAG kommt, können Arbeitgeber mit einer Reduzierung der Risiken infolge der vorzunehmenden Massenentlassungsanzeige bei der Durchführung von Massenentlassungen rechnen.

Hält der Zweite Senat indes an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest, kann der Große Senat des BAG angerufen werden, um über die Frage der Sanktionen bei Fehlern im Rahmen des Anzeigeverfahrens bei Massenentlassungen zu entscheiden.

Weder die Antwort des Zweiten Senats noch des Großen Senats des BAG lassen sich derzeit prognostizieren. Die weitere Entwicklung bleibt daher abzuwarten. Mithin sollten Arbeitgeber bei Massenentlassungen nach wie vor äußerste Sorgfalt nicht nur bezüglich des Konsultationsverfahrens mit dem Betriebsrat, sondern auch im Hinblick auf die fehlerfreie Erstattung der Massenentlassungsanzeige aufwenden.

Wir beraten Sie selbstverständlich gerne bei betrieblichen Umstrukturierungen, einschließlich begleitender Personalabbaumaßnahmen.